Die Zerstörung der Blätterkataloge
Ein kurzer längerer Rant gegen "Flipbook"-basierte Produktpräsentionen im Web
Blätterkataloge sind für Digitalagenturen das, was Globuli für eine Apotheke sind: Fachlich (evidenzbasiert!) hält man sie für vollkommen nutzlos – aber den Kunden möchte man ihre teuren Wünsche natürlich trotzdem erfüllen.
Aber warum hängen Händler und Hersteller immer noch so inniglich am Blätterkatalog – an einer Dinosaurier-Präsentationsform, die im modernen Web eigentlich komplett überflüssig geworden ist?
Rückblick: Der Aufstieg der Blätterkataloge – oder "Wie konnte das passieren?"
In der Gründerzeit des Internet (ältere Leser werden sich noch erinnern) wollte man die unerfahrenen Nutzer mit Analog-Metaphern in die schöne neue Cyberwelt abholen. Ein Blätterkatalog erschien zur Präsentation von Produkten als besonders geeignet. Hier zum Beispiel ein Zitat aus einem nicht mehr so ganz so frischem, zeitgenössischen Usability-Beitrag (Anm. d. Red.: Der ursprünglich hier verlinkte Artikel existiert nicht mehr):
"Generationen von Nutzern, junge wie ältere, kennen Kataloge. Deren Aufbau und inhaltliche Logik wurden verinnerlicht. Wir haben quasi gelernt – Kataloge zu lesen. Da ist das Bild – hier der Preis und dort die Größen – umblättern zu anderen Angeboten ist ebenso schnell erledigt"
Grundsätzliche Annahme ist dabei allerdings: Der Nutzer möchte nicht gezielt recherchieren, sondern er stöbert voller Muße durch das Angebot. Wenn er etwas sucht, dann nur Inspiration.
So stellt sich der Blätterkatalog-Fan also die typische Nutzungssituation vor (gestern wie heute):
Vielfältiges Angebot bei Blätterkatalog-Programmen
Nach den ersten Multimedia-Blätterkatalogen (Flash!) etablierten sich sehr schnell modernere Programme (einfach mal nach Flipbook googlen) und diverse SaaS Dienstleister, die PDF-Dateien im Handumdrehen in scheinbar interaktive Katalog-Präsentationen zum Blättern umwandeln (nur echt mit dem Original Page-Curl-Animationseffekt™ – da hört man das Papier praktisch sogar noch knistern!). Die besseren – und auch deutlich teureren – dieser Programme können sogar einzelne Seitenteile mit Zoom vergrößern oder auf eine passende Shopseite verlinken. Es gibt sogar auch ein paar rudimentäre Suchfunktionen zum schnelleren Auffinden der gewünschten Produkte.
Lauter Vorteile? Vor allem für stressgeplagte Freunde der Printdatei
Für viele Entscheider erschienen diese Eigenschaften sehr charmant. Wer aus der Print-Kultur kam, hatte in der Regel sowieso schon absurd viel Geld und Abstimmungsaufwand in ausgefeilte Layouts von Katalogen und Printbroschüren als Druckvorstufen-PDF investiert. Und diese Investition sollte sich jetzt gefälligst auch online rentieren! Also wird einfach das PDF genommen, um daraus den Webauftritt abzuleiten. Dann spart man sich auch die mühevolle Datenaufbereitung für Datenbanken oder Online-Produktdetailseiten. Kann man ja sowieso im Blätterkatalog viel schöner nachblättern! Und noch ein weiterer Vorteil für die printsozialisierten Auftraggeber: in den Blätterkatalogen sitzen alle Pixel genau da, wo man sie haben will.
Neben diesen schönen Aspekten der Arbeitsreduktion für überlastete Projektleiter, die diesen Onlinekram sowieso "nur nebenbei" machen wollen, gibt es aber leider auch eine ganze Reihe übler Nachteile.
Unschöne Nebenwirkungen und Nachteile der Blätterkatalog-Anwendung
Abgesehen davon, dass nicht jeder Nutzer unbedingt die benötigte Muße und Geduld hat, sich mit den Angeboten des Blätterkatalogs auseinanderzusetzen, folgt hier jetzt einmal eine unvollständige Liste der größeren Nachteile von Blätterkatalogen.
- Ein Blätterkatalog ist extrem langsam. Bei jedem Aufruf pumpt er unfaßbar große Datenmengen (Print-Katalog!) durch das Netz. Besonders schön ist das, wenn man deutschlandtypisch noch hinter einer langsamen oder teuren Datenverbindung wartet!
- Neben den ausufernden Bilddaten erzeugt die Generierung des Katalogs noch einen riesigen Overhead an zusätzlich benötigten Skripten und Frameworks, die oft nicht zum restlichen Tech-Stack der normalen Webseiten passen. Diese Skripte erhalten natürlich im Zweifel auch nie wieder die nötigen Sicherheits-Updates.
- Viele Blätterkatalog-Programme sind noch nicht ausreichend für Responsive Webdesign optimiert. Die besseren Anbieter erzeugen zwar oft schon Varianten für die Mobilversion, aber selten sind diese für alle inzwischen neu verbreiteten Devices und möglichen Zwischengrößen angepasst.
- Schlechte Suche: Blätterkatalog-Inhalte werden (auch mit teilweiser interner Optimierung) von Suchmaschinen sehr schlecht gefunden. Wenn der Katalog intern durchsucht werden soll, müssen die Suchindizes oft mühevoll nachträglich eingepflegt werden. Diese Arbeit ist anderswo sinnvoller investiert!
Erwiesene SEO-Nebenwirkungen des Blätterkatalogs
Ein weiteres generelles Problem der Blätterkataloge betrifft Datenstruktur und Informationsarchitektur. Die Generierungs-Programme legen einen riesigen Misthaufen von automatisch generieren Detailseiten irgendwo auf dem Server ab, die häufig nur von wenigen Einzelseiten aus verlinkt werden und daher in extrem tiefen Verzeichnisebenen herumgeistern. (s. Abb. 3).
Um die Crawler der Suchmaschinen nicht noch mehr zu verwirren als nötig, sollte man diese Seiten möglichst komplett von der Indizierung ausschließen…
… oder besser ganz auf Blätterkataloge verzichten. Denn es ist noch nicht geklärt, ob sie überhaupt wirken.
Die Gretchenfrage: Konvertieren Blätterkataloge? Über den Placebo-Effekt hinaus?
Leider kann diese Frage hier nicht wirklich endgültig geklärt werden. Denn obwohl diese Form der Produktpräsentation vor allem in Deutschland so ungemein beliebt zu sein scheint, findet man keine leicht zugänglichen Studien, die die Wirksamkeit – oder eben Wirkungslosigkeit – der Blätterkataloge bei der Leadgenerierung oder beim Produktverkauf schlüssig beweisen können.
Oder habe ich eventuell nur zu oberflächlich recherchiert? Falls Euch passende Studien bekannt sind, die die Wirksamkeit des Blätterkatalogs eindeutig nachweisen können, veröffentlichen wir hier gerne die Links zu diesen Seiten.
Bedauerlicherweise fehlt aber auch bei Unternehmen, die Blätterkataloge im Einsatz haben, oft die entsprechende Nutzungsstatistik, da Katalogaufrufe und Linkklicks zu Bestellseiten oder Feedbacks nicht sinnvoll mit Ereignissen für die Webanalyseprogramme verbunden sind. Aufgrund unserer (zugegebenerweise nicht statistisch repräsentativen) Erfahrungen gehen wir allerdings davon aus, dass der positive Nutzwert von Blätterkatalogen gegen Null tendiert.
Wir empfehlen daher zumindest bei einem Relaunch bei jedem Blätterkatalog ausreichend Tracker einzubauen und die tatsächliche Wertschöpfung dieser Angebote regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen.
Sinnvolle Alternativen zum Blätterkatalog
Kann man Blätterkataloge einfach weglassen? Ja, das geht. Besonders, wenn man sich bei der Gestaltung der normalen Produkt-Detailseiten auf dem Webserver etwas Mühe gibt. Denn idealerweise liegen ja sowieso alle relevanten Daten und Medien zu Produkten in einem PIM (Product Information Management) -System vor und werden automatisch in ein individuell angepasstes Content Management System mit maschinenlesbarer, strukturierter Datenauszeichnung ausgeleitet.
Na gut, zugegeben: das ist dann oft doch noch nicht der Fall. Doch zumindest sollte man sich als ernstzunehmender Anbieter inzwischen auf dem Weg zu diesem Idealzustand befinden.
Für den Übergang sollte es aber reichen, zumindest alle wichtigen Information, die den Nutzer und Kunden wirklich interessieren, auf die entsprechenden (suchmaschinenoptimierten) Landeseiten zu bringen.
Wenn es dann aber trotzdem noch darum geht, zur Entspannung einen Wohlfühlkatalog mit wundervollen Atmobildern zu verbreiten, kann man die hübsche Druckvorlage ganz einfach als normales PDF zum Download anbieten. Glaubt uns: Die Nutzer werden die Blätteranimationen wirklich nicht vermissen.
Fazit / Weckruf:
Blätterkataloge haben im modernen Web nichts mehr verloren und müssen dringend entlaubt werden! Freie Sicht auf Produktdaten! Nieder mit dem Pagecurl!
Ich freue mich auf Zustimmung oder Gegenargumente (gerne hier in den Kommentaren).
Leser, die diesen Rant mochten, könnten sich auch für diesen Vortrag von Ingo Schmitt interessieren: "Seamless Integration – Warum iFrames Kacke sind". Mehr dazu könnt Ihr dann hoffentlich auf dem TYPO3-Gemeinschaftsstand auf der DMEXCO erfahren.
Erste Reaktionen:
Ihr habt ganz den Aspekt der Kosten vergessen. Wohingegen man strukturierte Daten mit wenig Aufwand verteilen kann, müssen die PDFs aufwendig konvertiert werden. Da kostet auch mehr Server Ressourcen und Strom.
— Daniel Siepmann (@daniel_siepmann) July 26, 2019
Imho haben Blätterkataloge schon eine Daseinsberechtigung. Sie holen mit geringem Aufwand den Kunden da ab, wo er leider oft noch steht: Beim Printkatalog. Ggnüber PDF bieten manche Versionen auch gutes Ladeverhalten durch nachladen und man kommt schnell weg vom PDF Pixelbrei
— Veit Rumpf (@VRumpf) July 26, 2019
Wir freuen uns, wenn Ihr diesen Beitrag teilt.
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